Zu den Arbeiten

von Dr. Barbara Aust-Wegemund, Kunsthistorikerin, 2007

Den Dingen auf den Grund zu gehen und doch ein Stück Geheimnis zu wahren war das Lebensgefühl der Maler um Giorgio de Chirico, der verkündete „alles in der Welt muss man sich als Rätsel vorstellen“. Ein Teil dieser Rätselhaftigkeit lebt heute noch weiter in den Bildern der Künstlerin Ingrid Lill, deren detailgetreuen Arbeiten in Öl auf Leinwand von präziser Beobachtungsgabe zeugen. Auf den Bildwerken sind verschiedene architektonische Motive versammelt, Bauelemente, wie Treppen oder Durchgänge. Es sind Perspektiven aus Hamburg, eine Stadt, die für den Flaneur nicht nur Kanäle, Gänge und Speicherhäuser, sondern auch modernste Formen zeitgenössischer Architektur bereithält. Landschaft, Raum und Zeit, Stille, die Existenz des Menschen, Natur und Technik sind die wesentlichen Themen in Ingrid Lills Malerei. Durch den Hell-Dunkel-Kontrast der Farben, die die Künstlerin in vielen Schichten akribisch fein aufträgt, gewinnt die Leinwand etwas Haptisches, einen samtigen Ausdruck von sanft modelliertem Licht. Insbesondere die Malstruktur und die präzise abgestimmten Farben lassen sich jedes einzelne Bild in seiner Gesamtheit einer Reproduzierbarkeit entziehen. Nicht zufällig sind die Klarheit der Farbe, die Reinheit des Materials und der Werkstoffe präzise ausgewählt, wenn man bedenkt, dass Ingrid Lill bei den Bauhaus-Vertretern Oskar Holweck und Klaus Bendixen lernte.

So sind der Geist und die Atmosphäre in den Bildern zwar real, aber vom sinnlichen Reiz der Materie geprägt, beinahe metaphysisch aus der Gegenwart entrückt. Kaum eine Bewegung ist spürbar, die Stimmung zeugt von Ausgeglichenheit und spannungsvoller Ruhe gleichsam aber auch von Unbekümmertheit und Heiterkeit. Dabei erübrigt sich bei Ingrid Lills Bildern eine Erklärung, denn die Bilder erzählen selbst, wenn man sie fragt – ganz einfach, indem man sie betrachtet. Die Kompositionen sind nicht zugemalt, das Weggelassene lässt Raum für persönliche Assoziationen des Betrachters. Die Einzigartigkeit und künstlerische Handschrift von Ingrid Lill manifestiert sich nicht nur in der ästhetischen Zusammenstellung ihrer Kompositionen, vielmehr in der ganz eigenständigen, verspielt – leichten Form ihrer Wiedergabe und als Träger verschlüsselter Botschaften. Völlig unabhängig von Trends geht Ingrid Lill den einmal gewählten künstlerischen Weg. Ihre Eigenständigkeit erhalten die Arbeiten durch die intensive Verbindung von Sensitivität, Reflektion und Räumlichkeit. Hierdurch erklärt sich die Kraft, mit die Bilder auf den Betrachter wirken.

Ingrid Lill, die 1941 in Neunkirchen an der Saar geboren wurde, absolvierte eine Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule Saarbrücken und die Grundlehre bei Oskar Holweck an der Staatlichen Werkkunstschule Saarbrücken, um danach Freie Kunst an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg bei Klaus Bendixen zu studieren. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Hamburg.

Marco Ahlers, Galerist und Künstler in Hamburg, 2009

Katalog Ingrid Lill - Auszug -

Von den Wechselströmen der Zeit unberührt, präsentiert Ingrid Lill seit 1980 einen architektonisch inspirierten Stil, der sicherlich Entwicklungen und Veränderungen hinter sich hat, aber immer noch eine stringente Linie aufweist. Entstanden ist er vermutlich bei Oskar Holweck an der Werkkunstschule Saarbrücken und später bei Klaus Bendixen an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste; Verbundenheit mit der Tradition des Bauhauses ist somit nicht überraschend und nicht zu übersehen. Das Spannungsverhältnis zwischen Natur und Technik ist das Thema der Malerei. Glücklicherweise setzt sie genau dieses in die Mitte ihrer Aussage und deutet damit auf eine Vielfalt von Prozessen und Situationen hin, die beinah wertungsfrei zur Rede gestellt werden…

Dr. Antje Flade, Psychologin und Autorin, Laudatio Vernissage, 2018

Atelier und Galerie am Fischmarkt - Auszug -

…warum sind manche Bilder eigentlich faszinierend? Es gibt theoretische Ansätze, die das erklären. Der ästhetische Eindruck wird an verschiedenen Merkmalen festgemacht. Besonders hervorzuheben ist in den Werken von Ingrid Lill das Merkmal „Mystery“. Der englische Begriff lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen. Er trifft genau das, was man im Deutschen mit Rätselhaftigkeit und Geheimnis umschreiben würde. Mystery ist ein Merkmal, das anregt, sich näher mit einem Bild oder einer Umgebung zu befassen und sich vielleicht auch eine Geschichte auszudenken. Die Bilder von Ingrid Lill sind reich an Mystery. Ein Weg verschwindet hinter einer Biegung wie z. B. auf dem Bild „Über Nacht“, oder man blickt auf das Meer, in dem sich in der Ferne Inseln abzeichnen. Der Horizont ist weit weg. Was dahinter liegt, bleibt im Verborgenen…